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Leseproben

 

Aus dem Geschichtenkorb 

Das Muschelgewand

Erstes Kapitel

 

Der Leuchtturm

Der Mond ist ein schräges Himmelsauge, das mit dem Mann wandert, der im Blasentang sucht. Nach einer Weile findet er einen Sonnenstein, besieht ihn sich unter der Taschenlampe, reibt ihn an der Lederjacke blank und steckt ihn zum versteinerten Seeigel. Hier und da bückt er sich, wenn etwas nach Donnerkeil oder Bernstein aussieht, bevor er zum Hochufer aufsteigt und die Bank ansteuert. Von dort aus beobachtet er Kormorane, Prachttaucher und manchmal das Seeadlerpaar. Hafenbilder von Aberdeen, Havanna und Maputo, Pinguine und Packeis ziehen an ihm vorbei. Vieles hatte Fietje Strahlow von der Welt gesehen. Nur Amerika liegt noch im Nebel.

Kater Lu kommt von der Jagd und springt auf die Bank. Schwarz ist er bis auf die Pfoten. Die legt er Fietje auf den Schoß, krallt in die Hose und kneift die Augen zu. Er genießt es, wenn Fietje ihm gegen den Strich durch das Fell fährt. Sie sitzen noch so da, als die bewaldeten Berge das Morgenrot schlucken und von der Sonne einen ersten matten Schein durchlassen. In der Ferne erblickt Fietje Segel, ahnt den Rumpf eines Bootes mit einem Drachen am Bug. Durchsichtig wie ein Geist gleitet es dahin. Was mag es bedeuten, fragt Fietje sich und versucht, das Wafelbild zu verscheuchen. Doch es ist wieder da, wenn er den Blick auf die See richtet. Das Murmeln der Wellen, die Muscheln und Steine ans Ufer bringen, geht in sein Blut über.

Das Rauschen war sein Wiegenlied, als er in dieses Haus hineingeboren wurde, das sein Großvater neben den Leuchtturm gebaut hatte. Ein Leben ohne den Grünen Sand kann er sich nicht vorstellen. Sein Vater war der letzte Leuchtfeuerwärter gewesen, bis die Lampen ferngesteuert wurden. Als Heranwachsender hatte Fietje sie oft geputzt. Lieber hätte er Seevögel beobachtet, doch der Vater ließ nie locker. Fietje kennt jede der siebenundneunzig Stufen, ihr Knarksen und Stöhnen. Besonders genoss er den Blick von der Galerie über die See, die Lagune, Felder, Heide und Wald, wenn die Kraniche kamen. Von ihren Balztänzen konnte er nicht genug bekommen. Er kennt die Inselchen im Sumpf, auf denen sie brüten. Sein Traum ist es, im Turm ein Naturzentrum einzurichten.

In seine Vision versunken, bemerkt er das Paar auf dem Uferweg erst, als der Mann ihn anspricht: „Kann man den Turm besteigen?“

Fietje sieht von schwarzen Schuhen hinauf an der Hose aus dunklem Blau, über die Wölbung unter dem Wollmantel, zum Doppelkinn und in helle Augen. Sie liegen unter rötlichen Brauen. Das nach vorn gekämmte Haar ist rotblond. Neben dem Fremden steht eine etwa zehn Jahre jüngere Frau in heller Wildlederjacke. Der Wind zaust ihr das Haar ins Gesicht. Fietje empfängt den Duft nach Amber. „Der ist zu“, antwortet er.

„Schade, von dort oben muss man einen herrlichen Ausblick haben.“

„Man hatte. Bei klarer Sicht konnte man sehen, was die auf Bornholm kochen“, sagt Fietje und sieht sich in der Lotsenstube auf dem grünen Sofa beim Vater sitzen.

„Gibt es niemanden, der den Schlüssel hat?“, bohrt der Fremde weiter. ...

 

Lyrikband "Sternenschaukel"

Wildgänselied

Von der Seidenstraße zurück im kalten Land,
bin ich unterwegs zwischen Sommer und Herbst.
Schon reisen aus Norden die Wildgänse an.
Ich will dahin, woher sie gerade fliehn.

… und irre, irre, irre durch die Nacht.
Sterne spieln Versteck mit mir,
manches Dorf erscheint mir leer,
kein Licht hält Wacht,
nur ein Igel raschelt in die Stille.
Hinter mir lass ich Jahre
wie ein Knistern im Sonnensturm.

Vor mir liegt das Gebirge im Schleier aus Dunst.
Sein Sagenberg hüllt sich in den Poncho ein.
Doch ich wende mich ab, denn ich muss
durch die Steppe gen Norden ans Meer.

Wenn die Wildgänse ziehen, bin auch ich unterwegs

und irre, irre, irre durch die Nacht.

 

Flamingo

Flieg, mein hübscher Flamingo, flieg
hinaus in die Nacht.

In der Atacama schürfen sie dir
das Salz mit Krill aus der Lagune,
unter dem Schnabel kratzen sie es
zum Lithiumgewinn
für mein Smartphone,
den Akku in der Limousine.

Bald wird es heißen, in der Atacama

lebte einst der Feuervogel.

Im Museum liegt eine Feder unter Glas.

 

 

Sternenschaukel

Im Hof gefangen,
schneide ich mir Nacht für Nacht
ein Stück aus der Wolke und
trinke den Sternen zu,
bis ihr Wanken mir ein Zeichen ist.
Auf einer Wolkensträhne
reite ich zur Sternenschaukel.