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Referenzen

 

Aus dem Geschichtenkorb 

 

Lebensfahrten, Lebenslieder

Gedichte sind, wie es der Klappentext dieses Buches verheißt, »Fenster in innere, nahe und ferne Welten.« Dieser Anspruch wird völlig zu Recht erhoben, das erweist sich beim Lesen. Die Autorin beherrscht die Kunst, in ihren Gedichten diejenigen, die sich darauf einlassen, auf eine Lebensfahrt mitzunehmen, auf ihre Lebensfahrt. Gemeinsam ist man unterwegs, gemeinsam durchstreift man die Welt, erlebt, erleidet und genießt sie. Lesen als Akt der Gemeinschaft –das ist ein Impetus des Buches, der Lob verdient.

Der besondere Reiz der Lebensfahrt im Buch besteht darin, dass sie in der Fremde beginnt und gewissermaßen in der innersten Heimat, einfacher: bei sich selbst, endet.

Doch zuerst ist man »Auf Karawanenstraßen unterwegs«: Zypern, Armenien, Bergkarabach und Banja Luka sind Stationen. Während man noch dem Weg durch die Karawanserei »Läden mit Körben aus Weizenstroh / antiken Öllämpchen und Mokkakannen« betritt, sich die dort feilgebotenen »Miniaturteppiche als Lesezeichen« vorstellt, umweht wird von wundersamen Gerüchen und großer Friedsamkeit – erscheinen plötzlich: »Mia aus Kiew«, »Ihor aus Charkiv« und »Igor aus Wolgograd«, mit ihnen der unbegreifliche Wahnwitz eines grausamen Krieges. In drei Versen, Momentaufnehmen gleichsam, steigt er lapidar und deswegen besonders eindringlich vor uns auf. Des Trakl-Anklangs in einer Art Zusatz »dass keine weitere Nacht sterbende Kinder und Krieger umfange«, hätte es wohl gar nicht bedurft.

Die Lebensfahrt führt weiter zur Straße von Messina, zu Skylla und Charybdis und zum Stromboli. Literaturbehaftetes, Symbolträchtiges wird zu ganz Eigenem verwandelt, sodass wirklich ein Zwiegespräch entsteht. Und das ist, wie man weiß, auf Reisen von enormer Wichtigkeit. Wichtig ist es auch in der Situation des Eingesperrtseins: Die »weißen Häuser von Messina« tauchen am Fantasiehorizont auf, während das lyrische Ich wie aus einer Zelle spricht: »Mein Gefängnis / hat zwei Zimmer und Balkon mit Vogelhaus, / Fenster und sogar einen Hof / mit Bäumen – halb kahl, halb grün, / eine Straße zum Aldi und eine zum Park …« Wir alle haben diese »Gefängnisse« in den Pandemiejahren, den Verlust an aktivem Leben kennengelernt. Die Autorin hat den Mut, von »gestohlene[n] Jahre[n]« zu sprechen. So wird der »Osterspaziergang 2021« zu einem Gang durch das Zimmer: »auf und ab, ab und auf, ab, ab, ab«. Es sind die einfachen sprachlichen Mittel, die bei Renate Sattler oft die deutlichste Wirkung entstehen lassen.

Weitere Reisestationen sind etwa die Ostseeküste, der Harz, die Umgebung Magdeburgs. Im vermeintlich Nahen wird aber wieder die Welt sichtbar, mit all ihren Einbußen, die wir gern als Gewinne tarnen. Es stehen heute Häuser mit Gärten dort, wo einst eine Bahntrasse war. Aber die Rebhühner, die mit ihrem plötzlichen Auffliegen auch ein Erschrecken, ein Innehalten bewirken konnten, gibt es nicht mehr. »Rebhühner« ist ein wie erzählt wirkendes kurzes Gedicht, aber gerade das erzeugt eine Wucht, die seinen Worten etwas wie Klebkraft verleiht. Tiere und Pflanzen – damit lebt Renate Sattler, darauf bezieht sie sich, mit ihnen spricht sie, und sie erhält Antworten von ihnen. Sie ist ihre Advokatin, wo immer es nötig ist, sie zu verteidigen.

Ihren dafür geschärften Sinn verdankt sie gewiss auch ihren Kenntnissen indigener Völker, ihrer Mythen und Gebräuche. Sie hatten und haben in der Autorin eine wache und engagierte Fürsprecherin. Im vorliegenden Band bezieht sie sich im Gedichtzyklus »Gebete an Großmutter Mond« auf einen Schöpfungsmythos der Irokesen. Das ist die Himmelsfrau. Sie lehne sich, teilt die Schriftstellerin mit, an den von ihr erfahrenen Umgang von Mohawk-Frauen mit Großmutter Mond an. Die Gebete umfahren wieder die Welt, bitten für Hungernde und Verwundete, um dann, in einem der ergreifendsten Texte des Bandes, zu einer persönlichen Bitte zu werden, hervorbrechend aus dem Wissen um die eigene Zerbrechlichkeit und Endlichkeit: »Sag, dass es nicht mein letzter Herbst sei.« Denn noch seien nicht alle Geschichten erzählt. Wem fiele hier nicht Hölderlins Dichtung »An die Parzen« ein?

Die Lebensfahrten beschreibenden Gedichte enden sozusagen vor der Haustür: Ein Mädchen schnallt sich Rollerskater an, ihre Weihnachtsgeschenke, und rollt davon, der Sonne zu; der Weihnachtsmarkt lockt mit den banalen und doch herrlichen Genüssen Es sind Lieder des Lebens, die den Band beschließen, einen wohltuenden Optimismus zurücklassend. Und was beschreibt einen Neubeginn besser als ein Spaziergang am Neujahrsmorgen? Im Himmelsrot, am Fluss entlang mit seinen schneegeränderten Sandinseln. Aber diesen Aufbruch muss nun einmal jeder allein wagen, denn: »Diesen Pfad verrate ich / niemandem.«

Doch einen Band Gedichte darf man mitnehmen, damit man nicht allein geht.

Albrecht Franke

 

Renate Sattler: Sternenschaukel. Gedichte. Kulturmaschinen Verlag 2023, 104 S., HC 18,00 €, Broschur 13 €.

Diese Rezension wurde veröffentlicht in „Ossietzky – Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtchaft“, Nr. 9, 26. Jahrgang, 29. April 2023

 

 

Sanddorn und Muschelgewand

 

Wenn man den Roman „Das Muschelgewand“ von Renate Sattler liest, dann wird bald klar: Nur wer um die Vergangenheit weiß, kann die wichtigen Zusammenhänge in der Welt von heute erkennen. Und wer das Erkannte an andere weitergibt, der muss Wesentliches davon mit eigenen Augen gesehen ... haben.

Renate Sattler war in den USA und Kanada. Sie hat dort Freunde gefunden, zu denen noch heute „die Silberfäden der E-Mails über den Ozean schweben“ (Renate Sattler). Dieser Austausch, der durch das Lesen umfangreicher Fachliteratur ergänzt wurde, schloss und schließt für die Autorin das Kennenlernen anderer Denkweisen ein, die zeitlos und weltumspannend sind. „Wir glauben, dass alles miteinander verbunden ist. Erde und Himmel, Tiere und Menschen, die Toten und die Lebenden.“ Der das sagt, ist ein Mohawk, deren Kultur in der Lebenswirklichkeit des heutigen Kanadas an den Rand gedrängt wurde.

Aus dieser Konstellation entstanden ist der Roman „Das Muschelgewand“. Knapp 300 im Verlaufe der Handlung immer spannender werdende Seiten, welche den Leser dem Verstehen ein Stück näherbringen und ihn gleichzeitig dazu veranlassen, das Verständnis für viele Dinge zu ver-weigern, die sich in der auf drei Zeitebenen stattfindenden Handlung zuspitzen. Diese erstreckt sich von 1607 bis heute. Die Indianer erblickten damals zunächst „Riesenkanus mit Wolken an den Stangen“ und 400 Jahre später betreuen ihre Nachfahren ein kleines Museum, in dem Schüler wissen möchten, ob es dort auch richtige Indianer zu sehen gibt.

Es ist folgerichtig, dass die mit der Kultur der indigenen Völker Nord- und Lateinamerikas vertraute Sattler die Möglichkeiten des Magischen Realismus aufgreift, um Mythologie, Geschichte, Geografie und aktuelle Menschheitsfragen in einer Handlung miteinander verschmelzen zu lassen. Was Márquez in „Hundert Jahre Einsamkeit“ mit der sich über sechs Generationen erstreckenden Familiengeschichte in einem fiktiven Dorf erreicht, das gelingt Sattler, indem sie eine der Hauptfiguren ihres Romans dreimal leben lässt. Zuerst als Wowinchoppunk, Häuptling der Paspahegh im 17. Jahrhundert, als die Engländer die erste Kolonie in Nordamerika gründeten. Das zweite Mal wird er als deutscher Auswanderer August Sommerland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wiedergeboren. In seinem dritten Leben identifiziert sich Martin Baily von den Lenni Lena-pe (Delawaren) in Pennsylvania mit Wowinchoppunk. In dieser Gestalt legt er mit dem Einbaum auf Rügen in der Bucht von Gottesgnade an und geht auf das Haus am Leuchtturm zu. Ein Kupferamulett garantiert ihm, dass er immer wieder geboren werden kann. Aber er sagt: „Ein viertes Leben möchte ich nicht. Jedes Mal habe ich Menschen verloren, die ich liebe.“ Eine sich am Schluss des Buches selbsterfüllende Prophezeiung!

Die Hauptperson des Romans aber ist Maline, die mit ihrem Mann ein reetgedecktes Haus unmittelbar neben dem Leuchtturm in Gottesgnade, einem Dorf auf der Ostseeinsel Rügen, bewohnt. Den ersten Teil ihres Lebens verbrachte sie in der DDR und musste an der Erfüllung mancher Wünsche vorbeileben. Doch mit der Veränderung der Verhältnisse wird es für sie nicht besser. Der Leuchtturm lockt Spekulanten an. Nun soll nicht nur ihr seit Generationen in Familienbesitz befindliches Häuschen in „gemeinnützigem“ Interesse enteignet werden. Es geht Saat auf, die wohl schon in den Leuten und den gesellschaftlichen Strukturen auf ein Aufbrechen wartete: Schwächen der Demokratie treten im Gemeindeparlament zutage, Gottesgnade wird zu einem Ort von Drohungen ..., Solidarität bröckelt, die große Masse schweigt, Teile der Wirtschaft sind mit der Kriminalität verwoben, Nazi- und DDR-Zeit werden auf eine Stufe gestellt, die Polizei kesselt linke Demonstranten ein, geleitet rechte zum Bahnhof… Aber auch Terrorismus wird beim Namen genannt – ausgerechnet im Zusammenhang mit jemandem, der in Gottesgnade Schutz gefunden hatte.

Schlaglichter und Widersprüche aus einer Welt und einer Zeit, in der Kulturen nicht nur miteinander korrespondieren, sondern auch aufeinanderprallen. Angesichts der Tatsache, dass gegen Zuwanderer demonstriert wird, lässt Sattler eine angesehene Kinderärztin sagen: „Es werden zu viele. Wo bleiben wir?“ Ein Junge aus der Klasse ihrer Tochter kann sich nicht sattessen, weil seine Mutter arbeitslos ist und zwei Kinder hat. Und ein Mitschüler, der mit seinen Eltern vor zwei Jahren einwanderte, spricht noch nicht richtig deutsch, „zieht den Unterricht runter“, und seine Eltern fahren Mercedes.

Die Autorin deckt nach ihrem Erzählungsband „Feuer und Polarlicht“ auch in diesem Roman Widersprüche und Zusammenhänge auf, warnt zugleich vor einfachen Schlussfolgerungen z. B aus der Frage: Was wäre geworden, wenn die Indianer damals die Europäer nicht in ihr Land gelassen hätten? Nach dem Lesen dieses Buches kann man sich des Gedankens nicht erwehren, dass auf dieser Welt wirklich alles miteinander verbunden sein könnte. Das schließt Themen wie Kriege, Umwelt, Religion ein. Und es stellt sich die Frage: „Können Menschen verschiedener Kulturen friedlich miteinander auskommen?“ (Renate Sattler) Fakten aus Geschichte und Gegenwart bieten Anlass, über solch eine wichtige Grundfrage nachzudenken und nach Lösungen  zu suchen.

„Damit wir überleben, müssen wir das Kranke im Denken töten!“, lässt die Autorin Wowinchop-punk sagen. Was ist „das Kranke im Denken“? Beispiele gibt es im Buch viele. So lässt Sattler im Zusammenhang mit einem nicht richtig durchdachten Umfunktionieren eines ehemaligen Gutshauses in ein Asylbewerberheim eine Mitarbeiterin der Verwaltung resignieren: „Was kann ich ändern, bin doch nur ein Rädchen im Getriebe.“

Trotz aller Wunden, die Renate Sattler berührt: Ihr Roman ist auch ein Buch voller Poesie und Zauber: Da gibt es die Zwiesprache mit einem erlegten Tier, der Ozean zwischen Amerika und Europa wird nicht nur einmal mit einem Einbaum überquert. Wowinchoppunks Antwort auf Malines Frage beim Skypen, ob er ihren Ruf über die Distanz von tausenden Kilometern gehört habe: „Gehört nicht, aber es war eine Stimme in mir, ein Traumbild ...“ Der Volksmund sagt dazu: „Es muss Dinge zwischen Himmel und Erde geben, die da sind, obwohl wir sie uns nicht erklären können.“

Renate Sattler stellt in „Das Muschelgewand“ solche Erscheinungen auf ein Fundament, das „Ma-gischer Realismus“ heißt. Sie führt auf drei Zeitebenen und zwischen zwei Kontinenten Fakten und Fantasien zu einer Handlung zusammen, die aufrüttelnd und poetisch zugleich ist. Ein einziger Begriff sei als Beispiel genannt: Der Sanddorn. Eigentlich hätte dieses Gewächs aufgrund seiner regelmäßig wiederkehrenden Nennung einen Platz im Titel des Buches finden können: „Tau liegt auf dem Sanddorn. Maline hört das vertraute Geräusch der Brandung und Möwenschreie, als sie aus der Tür tritt.“ Oder: „Maline steigt aus dem Auto und blickt sich um. Ihr ist, als ob hinter den Sanddornsträuchern ein Rascheln wäre.“

Was verbirgt sich hinter der Erwähnung dieser Pflanze? Wohl auch, dass sie vor tausenden von Jahren aus Asien in unsere Breiten kam, u. a. einen Platz in der germanischen Mythologie fand, aber ebenso in anderen Teilen der Welt Bedeutung erlangte, und jetzt dort wie hier dazugehört, als wäre sie schon immer dagewesen. Sie ist eine Konstante im Wechsel. Was für ein schönes Gleichnis!

 

Peter Hoffmann

 

Rezensionen zu "Feuer und Polarlicht"

 

Christina Seidel

 

In einem weiten Bogen spannen und verbinden die 17 Erzählungen Menschen über Ozeane hinweg von der Antike bis zur Gegenwart. Dazu war umfangreiche Recherche nötig, genaues Beobachten und Zuhören, auch politisches Engagement.

 

Renate Sattler liebt die poetische Sprache und beherrscht sie. „Aus Worten forme ich Menschen und Bäume, Ziegel für eine Hütte und Schmetterlinge.“ Bereits als Jugendliche schrieb sie Gedichte. Diese Liebe zur Lyrik ist auch in ihren Texten zu spüren, die reich an Metaphern und bildhaften Landschaftsbeschreibungen sind, so dass Lesen zum Genuss wird. Sie erzählt aus der Distanz und als Ichperson. Der Leser gelangt ohne lange Einleitung mitten ins Geschehen. So in der ersten Geschichte, die von einem Freskenmaler handelt, der selbstvergessen in seiner Arbeit an einem Tempel in Pompeji dem Ausbruch des Vesuvs keine Beachtung schenkt. Vermutlich sieht und hört auch die Autorin während ihres Schreibens nicht, was um sie herum passiert. Aber außerhalb des Schreibens streitet und kämpft sie als Vorsitzende des VS Sachsen-Anhalt für die Belange der Schriftsteller. So gibt sie in ihrer zweiten Erzählung, einem fiktiven Gespräch mit dem Komponisten Liszt, ihrer Sorge Ausdruck, dass Künstler in Zukunft wie „Enten mit Krümeln“ abgespeist werden könnten. Überhaupt erfährt man in dieser Erzählung sehr viel auch von ihr selbst, von ihren Wünschen, ihren Sorgen. Als Anna aus Magdeburg trifft sie Liszt im Hofgarten in Bayreuth. Liszt war zum Musikfest 1856 an der Elbe. Nur als Gast, dann musste er einspringen für den erkrankten Dirigenten. 20 Jahre später war er noch einmal in Magdeburg im Dom, hatte die Bergsymphonie dirigiert. Er erkundigt sich bei Anna, ob das Weinlokal vor dem Dom noch existiert. Anna erzählt vom Zweiten Weltkrieg und der Teilung des Landes, auch von der Wiedervereinigung. Sie berichtet, dass die Buchhandlung, in der sie ihr erstes vom Lehrlingsgeld bezahltes Buch nach Hause trug, jetzt ein Schuhladen ist. „Nie haben Schuhe mich soweit getragen wie mich Bücher trugen.“

 

Liszt bittet Anna sich vorzustellen, „alle Menschen würden musizieren, komponieren, dichten oder malen. Niemand hätte Zeit Krieg zu führen. Die Energie, die Grausames hervorbringen kann, würde sich umkehren in Schöpfertum. ... Es war wohl ein Traum, dass Kunst Frieden schaffen könnte und jeder frei in seiner Meinung wäre. Doch ist die Kunst Ausdruck der Seele und einzig in der Kunst habe ich mich frei gefühlt. Ich glaube, dass jeder eine Form finden muss, um sich seiner selbst bewusst zu werden. Ich habe mich dafür eingesetzt, dass Kunst als politische Kraft anerkannt wird, weil sie den Menschen bildet.“ Sie lässt Liszt sagen, was sie selber wünscht, aber auch daran zweifelt oder verzweifelt. „Ein großartiges Ziel. Leider sieht es jetzt so aus, als würden die Künste den Styx hinunterschwimmen. Es ist so weit gekommen, dass Theater Sparten schließen müssen. Selbst dem Gewandhaus werden die Mittel gekürzt.“

 

Sie erzählt ihm auch von ihrer Sehnsucht das Land zu verlassen. „Wenn ich jung wär, würde ich ein Jahr nach Paris gehen und in Kanada am Sankt Lorenz Strom schreiben.“

 

Vorerst nimmt sie den Leser mit auf eine Reise durch den Huy, einen Höhenzug im nördlichen Harzvorland, mit enttäuschenden und erstaunlichen Beobachtungen, die Erinnerungen wecken, aber auch mit Genugtuung erfüllen, diese Reise für sich und den Leser erlebt zu haben.

 

Sie kann zuhören und lernt als Koordinatorin des Arbeitskreises Vierte Welt interessante Menschen kennen, denn die letzten fünf Erzählungen basieren auf Begegnungen mit Repräsentanten indigener Völker im kanadischen Bundesstaat Saskatchewan und dem indonesisch besetzten Westpapua.

 

Fast unfassbar und erschreckend ist „Im Kreis des Polarlichts“ von einem Säugling die Rede, der nach der Geburt nicht schreit, weil er ohne Mund geboren wurde. Totgeburten und Anomalien, auch bei Karibus, sind in Saskatchewan keine Seltenheit. Im nördlichen Kanada befindet sich eines der größten Uranbergbaugebiete der Welt. Eine brandaktuelle Geschichte, denn für die Zwischenlagerung der hochradioaktiven Abfälle sowie nach einem Endlager wird auch in Deutschland gesucht. 

 

Ebenso betroffen machen die Geschichten, die von den Gräueltaten der indonesischen Armee erzählen, die sogar vor Papuamädchen nicht Halt machen. Sie erniedrigen sie auf eine beängstigende Art und Weise, bezeichnen sie als „Affen“, die „zu doof für unsere Sprache sind.“ Dabei hatte Großmutter Selfiana den Kindern gerade von Manamarkeri, dem Gründer ihres Volkes, erzählt. Er trägt das Geheimnis des Morgensterns in sich, wird aber von den Menschen nicht erkannt. „Deshalb fuhr er eines Tages mit dem Boot westwärts auf die Südsee hinaus. Seitdem warten die Menschen auf seine Wiederkehr.“

(veröffentlicht in "Ort der Augen", Literaturzeitschrift des Landes Sachsen-Anhalt)

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Feuer und Polarlicht

Was macht ein Buch besonders angesichts der Flut von Gedrucktem, die ungehemmt über uns hereinbricht? Es muss sich abheben von Gewohntem, eine Wirkung erzeugen, die der Leser so nicht erwartet. Der Magdeburger Autorin Renate Sattler ist mit „Feuer und Polarlicht“ solch ein Wurf gelungen. Das schmale Bändchen umfasst zwar nur etwas mehr als 100 Seiten, ist aber ein Spiegel unserer Realität, die vom Platz vor der Kaufhalle gleich um die Ecke bis zu den unendlichen Weiten Kanadas und in den Regenwald Neuguineas reicht. 

Es geschehen ungeheuerliche Dinge in diesen Erzählungen, die teils die Unerbittlichkeit und Brutalität des Lebens zeigen, die manchmal aber auch so leise und unterschwellig drohend daherkommen, dass man ihre Alltäglichkeit spürt und dann erschrickt. Wie in der Geschichte „Das Spalier“: Eine alte Frau, vom Leben geläutert, aber einst als Kind dem „Führer“ verfallen, trifft vor dem „Netto“-Markt auf junge Menschen, die nicht zu den Gewinnern dieser Gesellschaft zählen, noch keinen Platz im Leben gefunden haben. Ein junger Mann kommt hinzu, erhebt die Hand zum Gruß. „Die alte Frau tut, als sehe sie ihn nicht und spricht weiter“, schreibt Renate Sattler und lässt sie vom Krieg erzählen, den sie durchleben musste. Es gibt keine Gewinner in dieser Geschichte. Die Figuren werden nicht geläutert, aber im Leser kommt etwas in Bewegung.

Die Autorin wagt etwas, das eigentlich selbstverständlich sein sollte und das man als epische Gerechtigkeit bezeichnet: Fast immer gibt es einen Anlass, weshalb ihre Figuren in die Abgründe menschlichen Handelns gezogen werden, zum Beispiel, als eine Mutter ohne ihren Sohn die DDR verlässt oder eine türkische Professorin sagt: „Die Kurden lügen, weil sie in Deutschland besser leben wollen.“ Und selbst der Angehörige einer indonesischen Todesschwadron hat ein – zumindest für ihn nachvollziehbares – Motiv für sein Handeln. Der Leser lernt verstehen, ohne dabei Verständnis zu entwickeln.

Die Autorin bietet Welterfahrung, welcher sich der Leser anvertrauen kann, wenn sie ihn nach Kanada, Mexiko oder die indonesische Provinz Papua mitnimmt. Was sie uns dort zeigt, das ist weitab von dem, was Reisebüros oder gewöhnliche Fernsehdokumentationen zu bieten haben. Man wird sie nur schwer oder gar nicht los, diese Bilder von dem Neugeborenen, das nicht schreien kann, weil es keinen Mund hat; oder die Schilderung, wie Maria und ihr Freund Yuslin, zwei junge Papuas, sich vor Soldaten ausziehen und entwürdigen lassen müssen.

Die Autorin hat diese Dinge nicht erfunden. Lange Zeit arbeitete sie mit Organisationen indigener Völker Nordamerikas und dem indonesisch besetzten Westpapua zusammen. Sie gründete den Arbeitskreis „Vierte Welt“ und war Mitgründerin des Westpapua-Netzwerkes. Vor allem wurden ihre Geschichten aus den Begegnungen mit den Betroffenen gespeist, von denen einige Freunde wurden. Mit diesem Wissen zieht sie auch Hintergründe fern ihrer Heimat Sachsen-Anhalt ins Licht: Den Abbau von Uran im Land der Diné, Cree, Ojibwa und Metis in Kanada mit allen damit verbundenen Gefahren für die Ureinwohner oder die Ausrottung der Papua-Völker für Gold, Kupfer, Palmöl und Tropenholz. Dies sind nur zwei Beispiele. Und überall lässt sich ein Geflecht erahnen, das auch bis nach Deutschland führt. Zum Beispiel, wenn wir uns neue Möbel für den Garten kaufen.

Hat man alle Geschichten dieses Buches gelesen, dann wird man unweigerlich auf die erste zurückkommen: In dieser ignorieren Einwohner von Pompeji das „Grollen des Berges“ und andere Anzeichen des herannahenden Unglücks. Es geht ihnen um den weiteren Ausbau des schönen Lebens. Wer in dieser Situation warnt, der läuft Gefahr, sich ins Abseits zu stellen.

So wird Literatur gemacht!

114 S., HC 18,00 €, Broschur, 12,00 €

 

Peter Hoffmann

 

(veröffentlicht in Zeitungen Sachsen-Anhalts)